Die Serie „Neues aus dem Fernsehrat“ beleuchtet seit dem Jahr 2016 die digitale Transformation öffentlich-rechtlicher Medien. Hier entlang zu allen Beiträgen der Reihe.
Im August 2023 hatte der ZDF-Verwaltungsrat in einer öffentlichen Ausschreibung darum gebeten, Studienkonzepte für eine Potenzialanalyse zum Thema „Perspektiven für digitalen Public Value im ZDF“ einzureichen. In der Ausschreibung wurden dabei folgende Beispiele für digitalen Public Value jenseits programmlicher Aspekte angeführt:
die Mitnutzung von Kommunikationsinfrastruktur für andere gemeinwohlorientierte Akteure, von Universitäten über den GLAM-Sektor (GLAM: Galleries, Libraries, Archives, Museums) bis hin zu freien Medien, die Bereitstellung von Eigenentwicklungen im Softwarebereich für die Nutzung durch Dritte oder das standardisierte Einräumen von Nutzungsrechten im Bereich von Online-Inhalten.
Im Fall des ZDF holte ein Aufsichtsorgan damit erstmals unabhängig von der zu beaufsichtigenden Anstalt externe Expertise ein, um so längerfristige und innovationsorientierte Investitionsentscheidungen besser und eigenständig einschätzen zu können. Den Zuschlag für die Erstellung erhielt Medienökonom Frank Lobigs (TU Dortmund), der die Studie im Team mit Christina Elmer (Professur für Digitaljournalismus), Tobias Gostomzyk (Professur für Medienrecht, beide ebenfalls TU Dortmund), Katharina de la Durantaye (Professur Bürgerliches Recht und Recht der Digitalisierung, HU Berlin) und Leyla Dogruel (Professur für Kommunikationswissenschaft, Uni Erfurt) erstellt hat.
Das Ergebnis hat einen Umfang von 188 Seiten und wurde heute vor der regulären Sitzung des ZDF-Verwaltungsrats in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert. Sie ist im Volltext online zugänglich (PDF). Anlässlich der Vorstellung der Studie habe ich mit Frank Lobigs ein Interview geführt, in dem ich versucht habe, einige der wahrscheinlichsten Kritikpunkte und Einwände gegen die Ergebnisse zur Diskussion zu stellen.
„Riskante demokratiegefährdende Kräfte“
In der Studie wird auf Basis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts argumentiert, dass öffentlich-rechtliche Medien im Allgemeinen und das ZDF im Besonderen ein Gegengewicht zu monopolistischen Online-Plattformen erfüllen sollten. Aber ist das wirklich notwendig, können wir nicht gerade beobachten, wie der Missbrauch einer Plattform wie Twitter sofort zur Entstehung von Alternativen wie Bluesky oder Mastodon geführt hat? Sehen wir hier nicht, dass die Selbstreinigungskräfte des Marktes auch im Internet funktionieren?
Frank Lobigs: So wie es der Gegengewichtsansatz des Bundesverfassungsgerichts vorsieht, richtet sich die Marktversagensanalyse im ersten Teil des Gutachtens, der von Tobias Gostomzyk und mir verfasst wurde, am Gewährleistungsauftrag der grundgesetzlichen Medienfreiheiten aus. Hierzu haben wir geprüft, ob die Medien unter den gegebenen Bedingungen der Plattform- und KI-Revolution den für eine freie, individuelle und öffentliche Meinungsbildung unabdingbaren integrativen „Common Ground“ schaffen können, der in liberalen Demokratien einen geteilten faktenbasierten Realitätsbezug und geteilte Grundwerte des demokratischen Zusammenhalts umfassen muss.
Die Analyse kommt diesbezüglich zu dem Ergebnis, dass die globla-dominanten Aufmerksamkeits- und Streaming-Plattformen ein multidimensionales Marktversagen hervorrufen, das insgesamt einem Systemversagen gleichkommt und die demokratische Meinungs- und Willensbildung in nicht tragbarer Weise beeinträchtigt. Statt Selbstreinigungskräfte des Marktes sehen wir in der Gesamtbetrachtung also vielmehr riskante demokratiegefährdende Kräfte der Plattform- und KI-Revolution des digitalen Kommunikationssystems.
Die Entstehung der Alternativen zu X ist für dieses systemische Marktversagen nicht wirklich relevant, da der Effekt auf das Systemversagen unter den herrschenden strukturellen Bedingungen allenfalls sehr marginal sein kann.

Die These ist also, dass die marktlichen Gegenkräfte zu schwach sind, um demokratische Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter sicherzustellen?
Frank Lobigs: Genau an dieser Problematik der zu schwachen „Gegenkräfte“ setzt unsere Herleitung der neuen Gegengewichtsfunktion und des Digitalen Public Value des ZDF an. Wir argumentieren, dass es zwei große medienpolitische Schritte braucht, um gegengewichtsrelevante Alternativen zu ermöglichen. Beide Schritte setzten hierbei einen mutigen medienpolitischen Paradigmenwechsel voraus: Einerseits bedarf es einer robusten Regulierung jener Geschäftspraktiken und -modelle der großen Aufmerksamkeitsplattformen, die zentrale ökonomischen Treiber des Marktversagens bilden und die die Gegengewichtsrelevanz von Alternativ-Modellen von vornherein aushebeln. Hierfür liegen weitgehende Vorschläge vor, auf die wir lediglich verweisen, da das Thema im Rahmen des Gutachtens lediglich als notwendige flankierende Umfeld-Regulierung von Relevanz ist.
Zum anderen, und hierauf fokussiert sich die Untersuchung, bedarf es gleichzeitig aber auch einer neuen Gegengewichtsfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk – und insbesondere auch das hierfür auf der nationalen Ebene besonders gut aufgestellte ZDF – soll demnach als strategie-, kooperations- und investitionsfähiger „Ermöglicher“ und gemeinwohlorientierter institutioneller Mitgestalter die Genese, Entwicklung und Funktionalität eines „gegengewichtsrelevanten“ Common-Ground-Netzwerks unterstützen.
Zum Digitalen Public Value des ZDF zählen demnach all jene Aktivitäten, die zur Stärkung so eines „Common-Ground-Netzwerks“ beitragen?
Frank Lobigs: Genau. Zum Digitalen Public Value des ZDF zählen wir alle Maßnahmen, die in strategischer Verfolgung dieser neuen Gegengewichtsfunktion zu einer Erhöhung des Public Value im digitalen Kommunikationssystem beitragen, auch wenn die betreffenden Public-Value-Effekte dann oftmals indirekt, dynamisch und kumulativ anfallen, etwa als Folgen der strukturellen Mitgestaltung von Netzwerken und Märkten.
Schon die darin zum Ausdruck kommende Dynamisierung des Public-Value-Konzepts stellt hierbei bereits einen Paradigmenwechsel gegenüber den bisherigen statischen Public-Value-Modellen für Public-Service-Medien dar, die sich im aktuellen digitalen Plattform-System überholt haben. Dies allein schon deswegen, weil sie von Medienmarktabgrenzungen ausgehen, die im Kontext des digitalen Plattform-Systems größtenteils nicht beziehungsweise nicht mehr maßgeblich sind. Hier sind vielmehr verstärkte Kooperationen sinnvoll, um den publizistischen Wettbewerb und eine Common-Ground-basierte gesellschaftliche Verständigung bestmöglich zu erhalten oder neu zu gestalten.
Es braucht einen fundamentalen Paradigmenwechsel
Bezieht das auch das Betreiben von Social Media als öffentlich-rechtliche Aufgabe mit ein?
Frank Lobigs: Das gilt grundsätzlich auch für das genannte Beispiel der X-Alternativen. So argumentieren Katharina de la Durantaye und Leyla Dogruel im zweiten Teil des Gutachtens zwar, dass das ZDF einen Digital Open Public Space (DOPS) als eine öffentlich-rechtliche Alternative im Bereich der sozialen Netzwerke entwickeln soll, sehen hierbei dann aber maßgeblich auch eine wechselseitig stärkende Vernetzung mit dem Fediverse und insbesondere auch mit Mastodon vor.
Besteht denn trotzdem nicht die Gefahr, dass hier mit öffentlichem Geld neuen und innovativen Social-Media-Plattformen eher das Wasser abgegraben wird, die zwischen den großen kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Angeboten überhaupt keine Chance mehr haben?
Frank Lobigs: Diese Frage spricht einen zentralen Aspekt des benötigten fundamentalen Paradigmenwandels in der Medienpolitik an. Eine wichtige Implikation des Gutachtens ist, dass das „Crowding-Out“-Denken gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk im digitalen Plattform-System größtenteils obsolet geworden ist. Stattdessen müssen wir die Potenziale von einem „Crowding-In“-Denken in den Vordergrund rücken und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk den Auftrag zu geben, diese gezielt zu fördern.
Was genau ist unter solchen „Crowding-In-Potenzialen“ zu verstehen?
Frank Lobigs: Wir empfehlen, dass Public-Value-Effekte selbst dann dem Öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Digitalen Public Value zugerechnet beziehungsweise „gutgeschrieben“ werden sollten, wenn er diese bei anderen Akteuren – beispielsweise über Hebeleffekte von Kooperationen oder mittels der Bereitstellung offener Inhalte – ermöglicht hat. Kurzum soll der Digitale Public Value keineswegs „Wasser abgraben“, sondern eher als „Regenmacher“ wirken, wo Hilfe effektiv und effizient sein kann und so ein Win-Win zwischen öffentlich-rechtlichen und anderen, auch privaten Medienangeboten möglich ist.
Ein wichtiger Aspekt ist hierbei, dass das ZDF als strategiefähiges, digital kompetentes und zugleich staatsfernes und gemeinwohlorientiertes Unternehmen auch „im Markt“ kooperativ netzwerkgestaltend tätig werden kann. Dies überlassen wir derzeit einzig den großen marktmächtigen Plattformen, die ihre Ökosystem-Netzwerke monopolistisch-extraktiv im Sinne ihrer ökonomischen und politischen Partikularinteressen „regulieren“ können. Die Medienpolitik kann zwar diese Quasi-Regulierungsmacht der Plattformen durch gesetzliche Regulierung einhegen, aber nicht selbst kreativ netzwerkgestaltend und kooperativ im Markt tätig werden. Sie sollte also den öffentlich-rechtlichen Rundfunk damit beauftragen, solche Ermöglichungs- und Crowding-In-Potenziale im Sinne der neuen Gegengewichts-Funktion zu erschließen.
Wer soll das bezahlen?
Unabhängig von der Frage nach der Marktsituation kosten zusätzliche öffentlich-rechtliche Plattformangebote Geld. Angesichts einer Debatte darüber, dass der Rundfunkbeitrag jetzt bereits zu hoch ist, wie realistisch ist die Finanzierung solcher Angebote überhaupt?
Frank Lobigs: Sowohl die erforderliche robuste Plattformregulierung als auch die Entwicklung von Digitalem Public Value als zusätzlichem Leistungsparadigma des ZDF setzen natürlich zunächst einen schnellen und radikalen Wandel auch im medienpolitischen „Mindset“ voraus. Einfach gesprochen braucht es eine entschlossene politische Unterstützung durch die zuletzt vielbeschworene „demokratische Mitte“. Hier ist die Frage nach der Finanzierung natürlich ein brisanter Aspekt. Da das Gutachten auftragsgemäß auf die Begründung des Digitalen Public Value des ZDF fokussiert ist, wurde der Aspekt der politischen Vermittlung des notwendigen medienpolitischen Paradigmenwechsels dort freilich nicht behandelt.
Wichtig ist aus meiner Perspektive jedoch der Hinweis, dass der Finanzbedarf deutlich geringer ausfallen kann als vielleicht vermutet, wenn entschieden vorgegangen wird. Auch wenn ich die von dem Medienwissenschaftler Martin Andree mit großem Engagement vertretene „Big Tech muss weg!“-Position medienökonomisch nicht zur Gänze teile, sind doch verschiedene sinnvolle Regulierungseingriffe durchaus mit hilfreichen „Kosten-Effekten“ verbunden. Deshalb wäre es aus meiner Perspektive empfehlenswert, wenn die Medienpolitik zur (Anschluss-)Frage nach der Finanzierung weitere Expertise einholen würde.
Sehen Sie noch weitere Möglichkeiten jenseits von Beitragserhöhungen, um den Finanzierungsbedarf zu decken?
Frank Lobigs: An der Beitragsfinanzierung sollte aus guten Gründen zwar im Wesentlichen festgehalten werden, da sie die Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sichert. Die Haushaltsabgabe steht jedoch auch in einem Spannungsverhältnis zu anderen Grundsätzen einer gerechten und zweckdienlichen Lastenverteilung in der Finanzierung eines zentralen öffentlichen Guts. Deshalb erscheint es mir zum Beispiel sinnvoll, darüber nachzudenken, Ausgaben, die sich nicht auf die direkte Finanzierung der staatsfernen Aufgabenerfüllung beziehen, aus der Beitragsfinanzierung herauszunehmen (Anm. L.D.: dazu zählen zum Beispiel die Finanzierung der Landesmedienanstalten).
Ferner wäre überlegenswert, wie die marktmächtigen Plattformen direkt oder indirekt auch zu einer Mit-Finanzierung des ergänzend benötigten Investitionsbedarfs herangezogen werden könnten, ohne die unabdingbare Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu gefährden. Dies hätte immerhin auch positive Effekte für die Belastungsgerechtigkeit, das anzustrebende Level Playing Field im Markt. Im Ergebnis wären damit eine größere Kostenehrlichkeit in Bezug auf negative externe Effekte für die Gesellschaft und eine bessere regulatorische Handlungsfähigkeit des Staats verbunden.
Ein alternatives, gemeinwohlorientiertes, soziales Netzwerk
Wenn genug Geld lockergemacht werden könnte, wie lässt sich verhindern, dass diese Plattformen zu Millionengräbern werden, weil es am Ende an Akzeptanz unter den Nutzer:innen fehlt? Man denke an gescheiterte Versuche, eine europäische Suchmaschine als Alternative zu Google aufzubauen.
Frank Lobigs: Es liegt in der grundlegenden Logik der Ökonomie mehrseitiger Plattformen, dass ein Verdrängungswettbewerb auf Basis grundsätzlich gleicher Leistungskriterien und unter sonst gleichen Regulierungsbedingungen nicht möglich ist. Denn der Wettbewerb wird ökonomisch letztlich durch extreme Netzwerk-, Skalen- und zusätzlich auch noch Ökosystem-Effekte entschieden. Diesbezüglich waren die Versuche zur Etablierung eines „Europäischen Google“ industriepolitisch naiv.
Wie die eingangs genannten X-Alternativen zeigen, ist ein Qualitäts-Differenzierungswettbewerb indes plattformökonomisch durchaus denkbar, wenn es denn für die Nutzer:innen gewichtige qualitative Differenzierungsmerkmale gibt und diese nicht durch plattformökonomisch bedingte Nachteile gänzlich überlagert werden.
Mit Blick auf das Gutachten ist diese Frage vor allem in Hinblick auf den bereits angesprochenen Vorschlag der Entwicklung eines „Digital Open Public Space“ als alternatives, gemeinwohlorientiertes, soziales Netzwerk interessant. Die Argumentation von Katharina de la Durantaye und Leyla Dogruel beschreibt hier einen angemessen risikosensiblen Umsetzungsweg. Zum einen werden die relevanten Potenziale der angestrebten Qualitätsdifferenzierung gezielt herausgearbeitet. Zum anderen wird ein stufenweiser Aufbau empfohlen, der ein flexibel angepasstes Risikomanagement hinsichtlich der Kosten ermöglicht.
Ein großer Punkt im Gutachten ist der Vorschlag, „Offenheit als Default“ zu etablieren, also Vorrang für Open-Source-Software und freie Lizenzen für öffentlich-rechtliche Inhalte. Besteht hier nicht die Gefahr, etablierte Geschäftsmodelle von Softwareanbietern und Inhalteproduzenten zu zerstören?
Frank Lobigs: Auch diese Frage betrifft letztlich die oben bereits angesprochene Crowding-Out-Thematik. Der spezifische Vorschlag, dass das ZDF eine „Offenheit als Default“ etablieren sollte, wird in dem Gutachten von Christina Elmer und Katharina de la Durantaye argumentativ begründet. Beide zeigen dabei das Potenzial modularer Veränderung auf: Auch Rohmaterial und Metadaten etwa können wertvoll sein. In Bezug auf die von ihnen betrachteten Software-Entwicklungen wird dabei deutlich, dass es um potenzielle Programme und Tools geht, bei denen die positiven Ermöglichungs- und Crowding-In-Effekte die denkbaren Crowding-Out-Effekte systematisch deutlich übertreffen. Alleine schon aufgrund der angesprochenen Marktversagensprobleme ist eine solche Konstellation auch bei den Inhalten plausibel, sofern diese tatsächlich grundsätzlich auf die gemeinwohlorientierte Zielsetzung der Common-Ground-Integration ausgerichtet sind.
„An der Beitragsfinanzierung sollte aus guten Gründen zwar im Wesentlichen festgehalten werden, da sie die Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sichert.“
Seit Birne mit seinem Body Leo Kirch um die Ecke kam, wurde das Storytelling der Sendeanstalten zunehmend botmässig und man wurde abhängiger vom Gutdünken der politischen Kaste, die man fortan umgarnte. Man könnte durch längerfristig abgesicherte Staatsverträge einiges entzerren.